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Inhalt Geliehene Leiden
Missbrauch mit Krankenscheinen, 1991

Gardinen unter Wasser
Mit Bodenseefischern auf Felchenfang, 1998

Mit majestätischen Grüßen
Das Goldene Buch von Osnabrück, 1998

Lieben ist menschlich
Aphorismen und Kurzprosa, 1988


8. November 1991 Die Zeit

Geliehene Leiden
Lasche Kontrollen fördern den Missbrauch mit Krankenscheinen

von Walter Budziak

Im Selbstbedienungsmarkt Gesundheitswesen haben Langfinger ein leichtes Spiel. Wenn ein Patient seinen Krankenschein beim Arzt abgibt, überprüft niemand, ob Name und Person übereinstimmen. Die Krankenscheine sind weder an eine Lichtbild- noch an eine Unterschriftenkontrolle geknüpft, können beliebig übertragen oder ausgetauscht werden.

Wer nicht versichert ist, kann sich so Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen, teure Medikamente, Schwerbehindertenausweise, Kuren und sogar vorzeitige Rentenansprüche erschleichen. Das ist nichts anderes als Diebstahl an der Sozialversicherung. Den gesetzlichen Krankenkassen dürften so bereits Schäden größeren Ausmaßes entstanden sein. Auch die Wirtschaft wird beeinträchtigt, wenn sich Arbeiter oder Angestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen erschleichen.

Was sich alles herausholen lässt, zeigte schon vor Jahren ein Zeitangestellter der Zentrale für die Vergabe von Studienplätzen (ZVS) in Dortmund. Mit seinem auf sechs Monate befristeten Arbeitsvertrag in der Tasche brachte es der Student auf vierzehn Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen und Fehlzeiten von insgesamt mehr als vier Monaten.

Es waren keinesfalls immer die eigenen Gebrechen, auf die der angehende Pädagoge krankmachte. Befreundete Kommilitonen "liehen" ihm ihre Leiden, von Magengeschwüren angefangen bis zur Platzwunde am Kinn, und ließen sich auf seinen Namen und mit seinen Krankenscheinen äztlich behandeln und krank schreiben. Als hilfreich erweist sich der Krankenscheintrick noch in vielen anderen Fällen: Jeder ordnungsgemäß Beschäftigte kann mühelos zwei Personen mit durchziehen, die nicht krankenversichert sind. Außer sich selbst kann ein Kranker auch einen Gesunden aufgrund ein und desselben Gebrechens mit Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen versorgen.

Mit Krankenscheinen von anderen kann beispielsweise ein Krebskranker doppelt und dreifach Rezepte für teure Opiate herausschlagen, die sich dann auf dem Schwarzmarkt in bare Münze verwandeln lassen.

Privatversicherten, die einen zusätzlichen Anspruch auf Krankentagegeld haben, bietet das Patienten-wechsel-dich-Spiel im Wartezimmer die Möglichkeit, mit den Gebrechen anderer eine schnelle Mark zu machen. Körperlich völlig Gesunde kommen auf diesem Weg an Schwerbehindertenausweise ebenso wie an Kuraufenthalte oder an vorzeitige Ruhestandsgelder. Das einvernehmliche Zusammenspiel zweier Personen gleichen Geschlechts, gleicher Nationalität und ähnlichen Alters ist die einzige Voraussetzung. Am ehesten eröffnet die Methode legal ansässigen Ausländern Tür und Tor, illegal eingeschleusten Verwandten oder Landsleuten, die nicht krankenversichert sind, gesundheitlich über die Runden zu helfen. Auch gesuchte Verbrecher oder Terroristen brauchen sich von einem Loch im Backenzahn oder einer Lungenentzündung nicht beeinträchtigen zu lassen. Mit dem Krankenschein eines Sympathisanten finden sie in Arztpraxen und Krankenhäusern kostenlose Hilfe. In die medizinische Unterwelt müssen Gesetzesbrecher allenfalls bei Schussverletzungen abtauchen.

Selbst hochmoderne Operationssäle und kostspielige Therapiegeräte einschließlich der dazugehörenden Krankenhausbetten bleiben Trittbrettfahrern nicht verschlossen. Der Wert eines einzelnen Krankenscheins kann die 10 000-DM-Grenze somit leicht überschreiten.

Um so unverständlicher erscheint die Leichtfertigkeit, mit der die Krankenversicherer diese Blankoschecks in die Menge werfen. Als praktische Abrissblätter werden sie jedem Versicherten gleich heftchenweise ausgehändigt. Sichern Geldinstitute ihre bis zu 400 Mark teuren Euroschecks mit der angekoppelten Scheckkarte und dem jederzeit vornehmbaren Unterschriftenvergleich gegen möglichen Missbrauch, verzichten die Krankenkassen sogar auf eine Numerierung ihrer medizinischen Einkaufsgutscheine. Ein Verlust wird in der Regel weder angezeigt noch registriert. Man habe keine Veranlassung, hierin ein "ernstes Problem" zu sehen, heißt es dazu seitens des Bundesverbandes der Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOK) in Bonn, die bei der gesetzlichen Krankenversicherung einen Marktanteil von 45 Prozent halten und in den alten Bundesländern sechzehn Millionen und in den neuen Bundesländern sieben Millionen potentielle Krankgänger verwalten. Etwa neunzig Prozent der Bundesbürger befänden sich in einer gesetzlichen Krankenversicherung. Daraus ergebe sich eine sehr geringe "Betrugsnotwendigkeit". Bei 200 Millionen Krankenscheinen und 100 Millionen Überweisungen jährlich in den alten Bundesländern ließe sich ein Verhindern solcher Betrügereien allenfalls mit sehr großem Aufwand bewerkstelligen.

Bei etwaigen Leistungserschleichungen verhalte es sich wie bei der Schwarzarbeit, konstatiert AOK Pressesprecher Udo Barske gelassen. Gegen solcherart Gesetzesverstöße sei eben kein Kraut gewachsen. Demnach mache man sich auch nicht die Mühe, mögliche Betrugsfälle zu erfassen. Irgendwelche Angaben hinsichtlich der Schadenshöhen ließen sich schon gar nicht beziffern.

Als "subjektives Risiko" nehmen die privaten Krankenversicherer den Betrug mit den Krankenscheinen hin. Gerhard Hof von der Debeka hält den Fall, der es einem gesunden Gewerbetreibenden beispielsweise ermöglicht, Krankentagegelder zu kassieren, denn auch für so theoretisch, dass er allenfalls "einmal in 20 Jahren" vorkommt. Auch wird in der Beitragsrückerstattung, die jährlich vier Monatsbeiträge bei Nichtinanspruchnahme umfasst, eine "gewisse Bremse" gesehen. Im übrigen sei jedes Sozialsystem "irgendwo auszuhöhlen", was sich auch am gängigen Steuerbetrug zeige. Bei nur drei Prozent der Versicherungsfälle, die bisher als Betrügereien entlarvt werden konnten, erscheint dieser Bereich in der Bilanz offenbar ohnehin nur unter "ferner liefen". Das Tückische an dem Krankenscheintrick ist nach einhelliger Ansicht der Versicherer nur, dass er sich im nachhinein so gut wie nicht mehr feststellen lässt. Trotzdem wird allgemein davon ausgegangen, dass er bislang allenfalls in Einzelfällen angewendet wurde.

Auch bei den privat Krankenversicherten zeichne sich ein Trend zum Mogeln ab, meint Peter Geisler vom Verband der privaten Krankenversicherer (PKV) in Kohl. Schon als Lehrling habe er gelernt, dass bei höheren Beiträgen auch das Bedürfnis steige, "das wieder rauszuholen". Ein Drittel der 1,5 Millionen Arbeitnehmer, die sich hierzulande täglich krank melden, seien Scheinkranke, schätzt der Hannoveraner Wirtschaftswissenschaftler Eberhard Hamer. Dass eben nicht, wie der nordrhein-westfälische SPD-Politiker Friedhelm Farthmann einmal behauptete, in allen Fällen ein krankschreibefreudiger "Doc Holiday" an der Blaumacherei mitwirkt, beweist der Trick mit den "falschen" Krankenscheinen, der selbst bei einem Vertrauensarzt glatt funktioniert.

Den Ärzten lässt sich in dieser Hinsicht kaum etwas vorwerfen, es sei denn, man mutet ihnen zu, sich von jedem nicht persönlich bekannten Patienten den Personalausweis zeigen zu lassen. Weil aber dadurch das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patienten erheblich beeinträchtigt würde, will der Allgemeinmediziner Gerald Klusmann von derlei Kontrolle nichts wissen. Dem Vertrauen gebühre aus ärztlicher Sicht eine "höhere Wertigkeit als übertriebene Kontrolle", fügt sein Kollege, der Internist Frank Koch, hinzu. Wie viele Deutsche mit geliehenen Krankheiten und Gebrechen blaumachen, kuren, Schwerbehindertenfreibeträge steuerlich geltend machen oder gar vorzeitig Rente beziehen, weiß niemand. Im Prinzip lassen sich die meisten Diagnosen parallel auch auf einen Gesunden übertragen und "ausschlachten". Selbst das Verkaufen von Krankenscheinen an illegal beschäftigte Leiharbeiter wäre denkbar.

Ganz so unbekümmert, wie der AOK Bundesverband sich nach außen gibt, scheinen andere Versicherer dem möglichen oder tatsächlichen Krankenscheinschwindel nun doch nicht gegenüberzustehen. Gemäß dem Gesundheitsreformgesetz (GRG), das am 1. Januar 1989 in Kraft trat, soll 1992 eine Krankenversicherungskarte kommen. Mögen die Möglichkeiten im Vordergrund stehen, damit die Verwaltung zu vereinfachen und Sachkosten einzusparen, dem freizügigen Krankenscheinschmu soll damit auch ein Riegel vorgeschoben werden.

"Dass Missbräuche da sind, davon gehen wir aus", räumt Werner Gerdelmann, Leiter der Abteilung Leistungs- und Vertragsrecht beim Verband der Angestellten Krankenkassen (VdAK) in Siegburg, ein, ob sich mit einer Versichertenkarte jedoch eine hundertprozentige Sicherheit vor Identitätsschwindel erreichen lasse, bezweifelt der Versicherungsexperte. Schließlich gingen auch bei Schecks, trotz Scheckkarte und sorgfältigen Unterschriftenvergleichs, die erschwindelten Beträge jährlich in die einhundert Millionen.

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1998 Stattblatt Online, Ausgabe Konstanz

Gardinen unter Wasser
Mit Bodenseefischern auf Felchenfang

von Walter Budziak

Auf Hochtouren nagelt der 95-PS-Diesel unter dem holzbeplankten Deck des Aluminiumkutters. Morgendämmerung durchdringt die Schleierwolken am Himmel. Verschlafen leuchten die Hafenlichter von Romanshorn am Horizont. Der See, beim Start im Staader Hafen noch fast glatt, hier am Ziel, im tiefen Gewässer, bringt er das schmale, 9,5 Meter lange Boot zum Tanzen. Hätte Lothar Brunner sich während der einstündigen Fahrt nicht Gummihose und Gummijacke übergezogen, die Gischt, die manchmal wie ein Wasserfall über dem Boot hereinbricht, hätte ihn längst bis auf die Haut durchnässt. So aber, die weite Kapuze tief ins Gesicht gezogen, steht er gelassen am Kajütenrand und beobachtet aufmerksam die leicht brodelnde Wasserfläche. "Einmal hat eine Welle die beiden Frontscheiben der Kajüte eingedrückt", berichtet er von heftigen Wetterturbulenzen, die er schon erlebt hat. An diesem Maimorgen zeigen sich Wind und Wellen dagegen eher von ihrer gemütlichen Oberseeseite.

Lothar Brunner zieht am Gashebel, der Diesel entspannt sich, der Kutter tuckert fast auf der Stelle. Das Boot schaukelt hin und her, ein neuer Tag im Arbeitsleben eines Bodenseefischers kommt jetzt langsam in Fahrt. Hier irgendwo hat Lothar Brunner eine Stunde nach Sonnenuntergang in der zurückliegenden Nacht seine drei Netze ausgelegt. Aber die können treiben, zehn, fünfzehn Kilometer, je nach Strömung. Von der Schwimmboje, an der sie befestigt sind, ist nichts zu sehen. Geduckt unter dem Kajütendach stöpselt Lothar Brunner Kabel, hängt sich einen Peilempfänger von der Größe eines Kofferradios um und erscheint wieder auf dem offenen Deck, einen Kopfhörer im Ohr und eine Peilantenne in der Hand. Ein Griff zum Gashebel, der Diesel dreht wieder auf, der Kutter, leicht aufgebäumt, wirft sich mit voller Kraft voraus den kniehohen Wellen entgegen.

Langsam schwenkt Lothar Brunner die Peilantenne im Halbkreis in Fahrtrichtung über dem Kajütendach. Nur wenige Minuten, und erste Peilsignale werden hörbar, erst leise, dann so laut, dass auch ein Nebenstehender sie aus dem Stampfen des Diesels und der Gischt heraushören kann. Ein Nicken über die Schulter ist für den Begleiter Robert Frankenhauser am Bootsheck das Zeichen, sich von der Plastikkiste zu erheben, auf der er bis dahin fast unbeteiligt gesessen hatte. Mit routinierten Handgriffen werden Kisten zurechtgerückt, Stangen hervorgezogen. Den Diesel auf Standgas gedimmt, energisches Drehen am Ruderrad, schon liegt die orangerote Schwimmboje Backbord bereit zum Einholen.

Präzision und Schnelligkeit haben nicht nur praktische, arbeitstechnische Gründe. Fischfang auf dem Bodensee unterliegt strengsten fischereibehördlichen Regeln und Vorschriften. "Bis auf zwei Minuten genau sind Fangtage und Fangzeiten vorgegeben", sagt Lothar Brunner. Nach zwei bis drei Wochen im Januar beginnt die eigentliche Felchensaison im April und dauert bis 15. Oktober. Auch in dieser Zeit darf nur an vier Tagen gefangen werden, und dies auch nur mit einer "patentierten" Anzahl Netzen. Barsche hingegen müssen bis 10. November und an allen Tagen um ihre Schuppenhaut bangen.

Zweimal werden die Felchen dann noch aus ihrer Herbst/Winterruhe gerissen: Zwischen 1. und 10. Dezember ist an drei bis acht Tagen Laichfischfang angesagt. Dann holen die vier hauptberuflichen und sechs nebenberuflichen Fischer, die in Konstanz noch ihre Netze auswerfen, ihre fetteste Felchenbeute heim, und haben dabei noch leichtes Spiel. Die Fische kommen zum Laichen nach oben und gehen den Fischern dicht unter der Wasseroberfläche ins Netz. Die Gewinne, die damit erwirtschaftet werden, fallen allerdings auch bescheidener aus. "Viel Fisch in kurzer Zeit", sagt Lothar Brunner. Die Händler kennen das Überangebot und halten die Preise im Keller. Außerdem sei die Nachfrage in dieser Zeit vergleichsweise gering.

Dabei bringen die Laichfische zusätzliche Arbeit: Die weiblichen Felchen (Rogner) werden "gestreift", ihr Rogen wird mit den Samen der männlichen Felchen (Milchner) künstlich befruchtet und an die Fischbrutanstalt in Langenargen geliefert, die sie ausbrütet und die Jungfelchen im Frühjahr aussetzt.

Mehr Einnahmen spült dann wieder die "Weihnachtsfischerei" in die Kasse, die drei Tage dauert, zur Sicherung der wirtschaftlichen Existenz der Fischer, zur Freude der weihnachtlichen Gaumenfreunde. Neben den genauestens festgelegten Fangtagen und Fangzeiten wacht die Besatz- und Fischkommission noch über einen weiteren "Wust an Vorschriften", wie Lothar Brunner schmunzelnd beklagt. So müssen die Maschenweiten der Netze bis auf 2/10tel Millimeter eingehalten werden. Netzhöhen und Garnstärken sind ebenfalls strikt einzuhalten, kontrolliert und überwacht, indem neue Netze nach der Montage amtlich genehmigt und plombiert werden zum Beispiel.

In Tiefen bis 30 Meter darf es den Felchen an die Kiemen gehen, im Mai justiert Lothar Brunner seine Schwebnetze aber nur einen halben Meter unter Wasserkante Obersee. Wie Gardinen "hängen" die haarfeinen Nylongeflechte an einem Oberseil, das mit Styroporschwimmern an der Wasseroberfläche gehalten wird. Ein Unterseil, mit Blei beschwert, besorgt den senkrechten Fall der Netze. Sackförmige Zug- oder Schleppnetze, die in der Hochseefischerei verwendet werden, sind auf dem Bodensee verboten.

Die Boje mit dem Peilsender ist eingeholt und verstaut. Über eine Querstange am Heck des Kutters zieht Lothar Brunner an der Oberleine Netz für Netz an Deck, während sein Begleiter hinter ihm die zappelnden Felchen aus den Maschen pflückt und in die bereitstehenden Plastikkisten wirft. Zusammengerollt passen die sieben Meter hohen und 25 Meter breiten Netze locker in eine Waschmaschine. "Gerade nochmal gutgegangen", sagt Lothar Brunner zwischendurch, "fehlte nicht viel, und die Netze wären in die Hafeneinfahrt von Romanshorn getrieben". Was in der geringen Tiefe, in der sie sich befanden, böse hätte enden können.

Die erste Fähre startet um halb sechs, und sie hätte die Netze samt Fang buchstäblich durch die Schiffsschraube gedreht. So verlässt die Fähre pünktlich, aber in gebührendem Abstand den Hafen und zieht am Horizont ihrer Wege. Im Herbst, wenn die Netze zwei bis drei Meter unter der Wasseroberfläche ausgebracht werden, ist die Gefahr nicht so groß, dass sie von Seglern oder Motorbooten mitgerissen und beschädigt werden. Deshalb nimmt Lothar Brunner dann auch neue Netze, während er im Sommer sicherheitshalber die älteren einsetzt.

Die Gefahr eines verhängnisvollen Abtreibens besteht in den Wintermonaten nicht. Dann wird statt des Schwebsatzes ein Ankersatz eingesetzt, die Netze also zwischen zwei Bojen gespannt, die jeweils auf dem Seegrund verankert sind. Lothar Brunner hat die Winterfischerei allerdings seit sechs Jahren drangegeben, weil zu schwierig, zu aufwendig und zu wenig lukrativ, allein wegen der Witterung. In diesen Monaten verdient er den Familienunterhalt jetzt einfacher mit handwerklichen Arbeiten, meist in seinem zusätzlich erlernten Beruf als Elektroinstallateur.

Früher konnte er mit der Winterfischerei wenigsten die laufenden Festkosten wie Miete, Strom, Benzin bestreiten. Heute kaum noch. Das liege am Barsch. Der füllte früher die Fanglücke bei den Felchen. Heute macht er sich rar. Was mit der Wasserqualität zusammenhänge, die anders geworden sei, besser für den Menschen, weil der Phosphorgehalt gesunken ist, weil die Bauern weniger Düngemittel auf ihre Äcker gießen, schlechter für den Barsch, dem das Plankton fehlt, das in überdünkten Gewässern reichlich wuchert.

Viele Bodenseefischer haben ihre Netze in den letzten Jahren für immer an den Nagel gehängt. 20 Vollerwerbsfischer fuhren noch auf Fang, als Lothar Brunner vor zwölf Jahren den Kutter und ein kleineres Fischerboot von seinem Vater übernahm. Neben den vier Hauptberuflichen widmen sich heute in Konstanz noch sechs Nebenberufliche der harten Fischerarbeit, "die ganz schön auf die Knochen geht", sagt Lothar Brunner, der das mit seinen 40 Jahren auch schon zu spüren bekomme. Zwei Nebenberufliche fischen noch in Konstanz selbst, drei in Dingelsdorf. In Wallhausen hat einer noch ein "Rentnerpatent". Patent ist die Erlaubnis, mit einer bestimmten Anzahl Netze auf dem Bodensee Fische fangen zu dürfen.

Wie in vielen anderen Berufen gehen auch manche Bodenseefischer inzwischen hochtechnisiert auf großen Fang. "Jeder Angler setzt heute schon Echolot ein", meint Lothar Brunner amüsiert. Zwar verfügt auch er über diese Technik, Fischschwärme besser zu orten, macht aber selten davon Gebrauch. Er glaubt nicht, dass er damit ein Felchen mehr gefangen hat als ohne diese "technische Spielerei", wie er sagt. Neueste Radaranlagen ermöglichten sogar die Ortung der Bojen über Satellit.

Er und sein Begleiter vertrauen ihrem handwerklichen Geschick, das sie auch benötigen, um die Felchen fachgerecht auszunehmen. "Ein sehr guter Fang heute morgen", freut sich Lothar Brunner mit Blick auf die fünf großen Plastikkisten voll Felchen, die jetzt auf Deck griffbereit stehen. Eile ist geboten, aber nicht erkennbar. Bis zur Ankunft im Heimathafen sollen alle Felchen ausgenommen sein. Beide bilden ein eingespieltes Team seit vielen Jahren. Robert Frankenhauser (60), Maurer, jetzt in Rente, hat schon dem Vater von Lothar Brunner beim Fischfang geholfen, aus reiner Freude, wie er sagt, weil er gern auf dem See ist und "gern früh aufsteht", ergänzt Lothar Brunner und lacht.

Wieder treibt der Diesel den Kutter mit aller Kraft vorwärts, diesmal entgegengesetzt Richtung Hafen. Robert Frankenhauser und Lothar Brunner sitzen sich am Heck gegenüber, Lothar Brunner hat einen flachen Steuerhebel zwischen seine Füße geklemmt, mit dem er das Boot auf Kurs hält. Felchen für Felchen setzt Robert Frankenhauser mit einem kurzen Messer den Bauchschnitt, Lothar Brunner übernimmt und zieht mit bloßen Händen die Eingeweide (Kutle) heraus, die in einem separaten Eimer landen. "Früher wurden die Kutle ins Wasser geworfen", sagt Lothar Brunner, inzwischen sei auch das verboten und werde hart bestraft, falls es jemand von der Fischereiaufsicht mitbekomme. Möwen, von denen auch jetzt einige das Boot begleiten, würden die Eingeweide aufpicken und über dem Wasser wieder ausscheiden. Fischereiexperten sehen darin eine zusätzliche Infektionsgefahr für den Fischbestand.

Vier Kisten voll Felchen sind übrig, ausgenommen und gewaschen, als der Kutter den Fischerhafen in Staad erreicht. Vor der Einfahrt noch schnell die leeren Kisten und das Deck abgespült, dann manövriert Lothar Brunner den Kutter an den Steg, längsseits klar zum Ausladen. Etwa 80 Kilo Felchen nehmen ihren Weg in Kochtöpfe und Bratpfannen. Lothar Brunner freut sich auf sein zweites Frühstück, das zu Hause nach vier Stunden konzentrierter Arbeit auf ihn wartet.

Viel länger, nämlich insgesamt acht Jahre dauert es, bis ein Bodenseefischer eigenverantwortlich seine Netze ausbringen darf. Nach drei Lehrjahren zum Fischer und Teichwirt wird ein Ausbildungspatent zum Meister erteilt. Fünf weitere Jahre vergehen, dann kann man die Meisterprüfung zum Fischwirtschaftsmeister ablegen und erhält ein eigenes Patent. Lothar Brunner gehörte zu denen, die den letzen Meisterlehrgang am Bodensee in Langenargen absolvierten. Erst danach konnte er vor zwölf Jahren den Fischereibetrieb von seinem Vater übernehmen, den er jetzt in der dritten Generation weiterführt.

Auch an diesem Morgen ist die Arbeit noch nicht beendet, nachdem Lothar Brunner seinen in der Bodanwerft gebauten Kutter im Hafen festgemacht hat. Drei der vier Kisten mit Felchen liefert er in der Fischereigenossenschaft ab, der er auch vorsteht. Eine Kiste geht mit nach Hause, wo er die Felchen in einer modern ausgestatteten Kellerküche entschuppt und filetiert. Spätestens alle paar Wochen, muss er dann auch noch neue Netze montieren und amtlich abnehmen lassen.

Das romantische Bild Netze flickender Fischer am Mittelmeer ist am Bodensee aber längst Vergangenheit. Die haarfeinen Nylonfäden machen ein Flicken unmöglich. Auch Räuchern steht bei Lothar Brunner nicht auf dem Arbeitsplan. "Besonders im Sommer wird nachts geräuchert," sagt er, "und die wenigen Stunden, die mir zwischen Ausbringen und Einholen bleiben, schlafe ich lieber."

Wie beurteilt er die Zukunft der Bodenseefischerei und der Felchen, mit 70 Prozent am Gesamtfang der "Brotfisch" der Fischer? Mit dem Rückgang und dem geringeren Wachstum der Barsche werde der "Druck auf die Felchen größer werden", vermutet er. Es bleibe abzuwarten, wie die Behörde darauf reagiere, ob sie die Fischerpatente einschränke. Falls derartige Maßnahmen nicht erfolgten, könne auch der Felchenbestand abnehmen. Im Moment halte sich ein guter Felchenbestand. Größere Fänge würden ohnehin nur weiter die Preise mindern. Ein Trend Richtung Wechsel von der Vollerwerbs- zur Saisonfischerei zeichne sich aber sowieso ab.

Und seine Kinder, werden sie seine Arbeit fortsetzen? Das lasse sich bei einem 7-Jährigen und einer 5-Jährigen noch nicht abschätzen. Er werde jedenfalls weitermachen, "solange sich die Fischerei rechnet." Sollte dies einmal nicht mehr der Fall sein, wisse er jetzt schon einige Alternativen, wie er seine Familie ernähren kann.

Dann könnte Lothar Brunner mit seiner Familie auch mal in SommerUrlaub fahren, was bis jetzt wegen der Fischerei buchstäblich ins Wasser gefallen sei. Frühere Hobbies wie Tauchen, SchützenVerein und Motorradfahren hat er auch längst eingestellt. Gebleiben ist ihm Skifahren im Winter, das auch die Kinder schon begeistert mitmachen.

Eine Frage darf natürlich nicht fehlen: Was waren die kuriosesten und dicksten Fischbrocken, die Lothar Brunner in den Jahren aus dem Bodensee gefischt hat? "Einen Hecht von 18 Kilo und aus dem Untersee öfter einen kapitalen Wels", sagt er belustigt. Ab und an haben sich auch Flusskrebse und Kaulbarsche in den Netzen verirrt, letztere wenig geschätzt, weil sie sich ungehindert vermehren und als Laichräuber gelten. Überdrüssige Aquarienbesitzer steuern weitere Raritäten bei. "Manchmal geht auch ein Goldfisch mit ins Netz", lacht Lothar Brunner, während ein Schwung Felchen in einer Maschine wie in einer Wäschetrommel ihrer Schuppen entledigt werden. Einer weitverbreiteten Legende vom Felchen als zoologische Gattung, die nur im Bodensee vorkomme, werden die schmackhaften Speisefische nicht gerecht. In Bayern heißen sie "Renken", in der Schweiz werden sie als "Albele" gefischt.

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1998 Stattblatt Online, Ausgabe Osnabrück

Mit majestätischen Grüßen
Das Goldene Buch von Osnabrück

von Walter Budziak

Die Stunden, die Elsbeth Witte in den Nächten vor dem 24. Oktober 1998 geschlafen hat, kann sie an ihren Fingern abzählen. Noch am Morgen vor dem Eintreffen der königlichen und fürstlichen Hoheiten aus halb Europa, die sich in Osnabrück und Münster zum Gedenken an den Westfälischen Friedensschluss vor 350 Jahren versammeln sollten, musste die Protokollchefin die Einsatzzentrale der Polizei zur Ordnung rufen, nachdem sie um 4 Uhr das Rathaus verlassen hatte. Ihr war auf dem Heimweg ein Zelt aufgefallen, dass SicherheitsKräfte an einem Eingang der ansonsten hermetisch abgeschirmten Altstadt aufgestellt hatten, ohne sich vorher mit der Protokollverantwortlichen abzusprechen.

Um fünf Uhr war das Zelt wieder abgebaut. Für Elsbeth Witte war auch diese knappe Ruhepause um nochmal eine Stunde kürzer. Von den Strapazen dieses protokollarischen Kraftakts, des bisher größten im modernen Europa überhaupt, hat Elsbeth Witte sich längst erholt. Die Blumen sind verwelkt, die Reden verhallt. Geblieben sind Erinnerungen in Form von Schriften, Bildern und eine Doppelseite im Goldenen Buch der Stadt Osnabrück mit den Signaturen von 17 Durchlauchten, Exellenzen, Eminenzen, Majestäten sowie je einem Staats-, Senats- und Bundespräsidenten. Unterschriften auf etwa 400 weiteren Seiten zeugen noch von vielen anderen protokollarischen Großereignissen zu Ehren hochrangiger Amts- und Würdenträger.

Die 20 Unterschriften vom 24. Oktober 1998 stehen im zweiten Goldenen Buch, das am 18. November 1997 mit den Unterschriften aller Ratsmitglieder aufgeschlagen wurde. Gleich auf der zweiten Seite setzte die schwedische Königin Silvia ihren Namen auf das Pergament. Sie war fünf Tage später zur Eröffnung einer Ausstellung "Christina, Königin von Schweden" nach Osnabrück gekommen. Diplomaten aus Portugal und der Schweiz, NRW-Ministerpräsident Wolfgang Clement, folgen und, am 6. Juni 1998, Seine Heiligkeit der Dalai Lama, angereist zur internationalen Konferenz "Für Frieden und Menschenrechte". Knapp einen Monat danach der 1. Ökumenische Kirchentag in Osnabrück, der das Goldene Buch wieder um einige Signaturen bereicherte, diesmal vor allem aus der Welt der Geistlichkeiten. Dr. Henry Kissinger und Johannes Rau reihen sich ein, die ein Symposium im Rahmen der Osnabrücker Friedensgespräche bestritten, moderiert von Sabine Christiansen. Bislang als Letzte haben sich Bundeswirtschaftsminister Werner Müller am 6. Juli 1998 sowie der Botschafter von Gabun, S. E. Ratanga zwei Tage später handschriftlich verewigt.

Partner- und Freundschaftsverträge sind im ersten Goldenen Buch der Stadt Osnabrück dokumentiert. Haarlem, Angers, das österreichische Gmünd, Greifswald noch zu DDR-Zeiten am 12. Februar 1988, Villa Real in Portugal, Evansville (USA), Twer, das offizielle Netz internationaler Kontakte umspannt auch Canakkale in der Türkei und Kwangmyong in Korea. Eröffnet wurde das Buch mit dem an mittelalterliche Buchdruckkunst erinnernden Titelblatt am Neujahrstag dieses Jahrhunderts aber nicht mit Unterschriften. Eine Bestandsaufnahme, so etwas wie Osnabrück in Zahlen, fällt in feinster Sütterlinschrift die ersten Seiten.

Gestiftet hat es Senator August Haarmann "zur Wende des Jahrhunderts unserer guten Stadt Osnabrück, damit vom Beginne des Jahres 1900 alle Jene, welche als Gäste der Stadt in deren Mauern weilen, ihre Namen zum Gedenken auf den nachfolgenden Blättern verzeichnen, der Bürgerschaft zur Ehre und den kommenden Geschlechtern zur Kunde", wie er auf einem Vorblatt schrieb. 25 317 männliche und 25 092 weibliche Einwohner begleiteten in Osnabrücker den Wechsel ins 20. Jahrhundert. Polittourismus scheint in den ersten drei Jahrzehnten aber noch keine große Rolle gespielt zu haben. Schon nach vergleichsweise wenigen Seiten tauchen 1936 die ersten Hakenkreuze als kalligrafische Verziehrungen auf.

Dem "Treffen anlässlich der fünfjährigen Wiederkehr der Gründung des SS-Sturmbanns III/24. SS-Standarte Osnabrück" folgt, einige Seiten weiter, aber schon die "Wiedereröffnung nach dem Zusammenbruch", die ebenfalls mit einer umfassenden Bestandsaufnahme eingeleitet wird: Den 99.175 bzw. 107.081 (einschließlich Nahne und Hellern) Einwohnern des Jahres 1939 standen am 1. 5. 1945 noch 61.309 Einwohner gegenüber. Allein die 181 Luftminen, 24.904 Sprengbomben, 652.156 Brandbomben und 11.754 Flüssigkeitsbomben hatten 985 Zivilpersonen getötet, 852 schwer und 548 leicht verletzt. Von vorher 18.544 Gebäuden waren 4.051 völlig zerstört, 3.575 schwer und 1.863 mittelschwer beschädigt. Ergänzt werden die Zahlen mit einer Beschreibung von der Vernichtung wertvoller Baudenkmäler, von der Zerstörung der Innenstadt, Straßen, Brücken, Kanalisation, von den Auswirkungen auf Wirtschaft und Privatbesitz.

Der Dokumentation des Kollapses folgt im Oktober 1948 die Kunde vom "Wiederaufbau des Rathauses", das am 13. April 1944 in Trümmer gelegt worden war, und von der "besonderen Verpflichtung, es in seiner alten Gestalt wieder erstehen zu lassen". Nach fast 25-jähriger Bauzeit war es 1512 im wesentlichen fertiggestellt worden und galt seitdem als letztes Großbauwerk der Spätgotik zumindest in Norddeutschland. Besonders für den Wiederaufbau eingesetzt hat sich Oberstadtdirektor Dr. Vollbrecht.

Es ging wieder voran. In der "Erinnerungswoche an den Abschluss des Friedens 1948" trug sich der Rat ins Goldene Buch ein und gab es "damit für weitere Eintragungen frei". Als erste machten die Teilnehmer einer "Kabinettsitzung des niedersächsischen Staatsministeriums" am 15. Oktober desselben Jahres im Friedenssaal davon Gebrauch.

Bis berühmte Namen auftauchen, dauerte es noch einige Jahre. Erstmal zeichneten Anfang März 1951 der "enge Vorstand des deutschen Turnerbundes" sowie Mitte September 1953 Veranstalter und/oder Teilnehmer der "Endkämpfe um die deutsche Tennismeisterschaft". Dann aber, am 26. Juni 1956, eröffnete Bundespräsident Theodor Heuss den Reigen bedeutender Persönlichkeiten, die sich fortan in Osnabrück die Klinke in die Hand gaben. Politiker und Staatsgrößen der ersten Garde machten ihre Aufwartung, darunter Erich Ollenhauer anlässlich einer SPD-Wahlkundgebung, Bundespräsident Heinrich Lübke "mit Gattin" zum 63. Deutschen Wandertag (1963), Konrad Adenauer im selben Jahr, der nur mit seinem Nachnamen und zudem etwas krakelig unterschrieb, Königinmutter Königin Elisabeth (1965), sechs Jahre später Prince Charles of Wales und mit ihm in den folgenden Jahren einige weitere Botschafter und Diplomaten aus dem englischen Königreich, die ihren britischen Soldaten in Osnabrück einen Besuch abstatteten.

Innenminister Hermann Höcherl kam 1965, gefolgt von den Bundeskanzlern Prof. Dr. Ludwig Erhard (1965), Kurt-Georg Kiesinger (1967), Willy Brandt (1972), Helmut Schmidt (1974) und Helmut Kohl (1984), wobei letzterer mit Willy Brandt und dem vormaligen Ministerpräsidenten und späteren Bundeskanzler Gerhard Schröder das unleserlichste Gekraxel auf das Pergament klexte. Lothar de Maiziere kam, sah und schrieb, aber erst im November 1994 als Mitglied des Bundestags. Hans-Dietrich Genscher und Herbert Wehner (beide 1972) gaben sich die Ehre, dann, der 85. Deutsche Wandertag brachte ihn mit sich, Bundespräsident Dr. Richard von Weizsäcker (1985) sowie zwei Jahre vorher sein Amtskollege Carl Carstens. Noch höherer Besuch kam am 16. November 1980: Papst Johannes Paul II, der die 1200-Jahrfeier des Bistums mit einer Messe krönte.

Globalen Glanz brachte auch UN-Generalsekretär Javier Perez de Cuellar 1986 in die Hasestadt. Weitere nationale Glanzlichter setzten Joschka Fischer (1994), damals noch hessischer Umweltminister, und schon 1977 Antje Huber, Bundesministerin für Jugend, Familie und Gesundheit, nicht zu verwechseln mit Anke Huber, der Tennisspielerin. Die hat noch nicht in Osnabrück aufgeschlagen. Dafür aber ein anderer Welttennisprofi: Michael Stich, 1997 weilte er in den Mauern der Stadt, mit Ehefrau Jessica Stockmann.

Die Liste der Bundesminister, bundesdeutschen Ministerpräsidenten, Botschafter und geistlichen Würdenträger aus aller Herren Länder ist lang, umfasst an die 400 mitunter klangvolle Namen. Apropo klangvoll, Künstler, Literaten, Philosophen kamen auch, der Geigenvirtuose Yehudi Menuhin beispielsweise. 1960 gab er ein Konzert in der Halle Gartlage. Zwei Jahre vorher wurde dem Schauspieler Mathias Wiemann die Justus-Möser-Medaille überreicht. In jüngerer Vergangenheit, am 11. Juni 1993, fand Hans-Magnus Enzensberger den Weg nach Osnabrück. Er nahm den Erich-Maria-Remarque-Friedenspreis in Empfang, eine Zeremonie, die seit 1991 alle zwei Jahre verdiente Geistesgrößen nach Osnabrück holt, so auch Lew Kopelew 1991 und Miljenko Jergovic 1995. Mit dem Politiker, Priester und Dichter, Träger des Friedenspreises des deutschen Buchhandels, Ernesto Cardinal, kam 1995 ein weiterer Vertreter zeitgenössischer Weltliteratur nach Osnabrück.

Selten sind Gedanken, Wünsche, Botschaften, die eine Signatur begleiten. Der ersten Eintragung der Nachkriegszeit gaben die Verfasser die Hoffnung mit auf den Weg, die Narben der Zerstörung "mögen späteren Geschlechtern als Mahnung und Warnung dienen, sich allen Gewalten zum Trotz nie wieder einer Diktatur zu beugen, sondern das heilige Recht des freien Bürgers auf demokratische Selbstverwaltung über alles zu setzen."

Im Gegensatz zu den Bundeskanzlern Brandt, Kohl und Schröder schrieb Xu Le-Yi, Vizegouverneur der Provinz Anhui, richtige chinesische Schriftzeichen: "Wir wünschen Osnabrück eine segensreiche Entwicklung. Möge sich die Zusammenarbeit und Freundschaft zwischen der Provinz Anhui und Niedersachsen und unseren Völkern vertiefen, die freundschaftlichen Beziehungen zwischen Osnabrück und Anhui weiterhin positiv entwickeln." Bisher nicht übersetzt wurden dagegen die Zeilen, die die Botschafter des Königreichs Marokko in Arabisch und der Republik Usbekistan in Kyrillisch angemerkt haben. Versöhnliches setzte Schulamith Joari-Nussbaum, Cousine des Malers Felix Nussbaum, am 2. Juni 1994 ihrer Unterschrift voran. Durch die Gemälde ihres "teuren Cousins Felix Nussbaum" habe sie viele gute Freunde in Osnabrück gewonnen. Sie danke der Stadt, die viel getan habe, "um Felix seinen Platz als Künstler zurückzugeben."

Politisch vielleicht aktueller denn je, was Bundesverkehrsminister Dr. Ing. Hans Seebohm bereits am 20. September 1964 ins Goldene Stadtbuch schrieb. Es gelte, "Geist und Bild der Heimat zu erhalten und in unserer Zeit stürmischer technischer Entwicklung neu zu gestalten." Einer hat sich auch mal beim Datum verschrieben und korrigiert: von Kühlmann-Stumm, FDP-Fraktionsvorsitzender des Bundestags, der sich im Juni 1967 schon im Juli glaubte.

Zur Unterschrift gebeten werden, laut Beschluss vom 15. September 1971, Bundespräsidenten, Präsidenten und Vizepräsidenten des deutschen Bundestags, Fraktionsvorsitzende desselben, Länderpräsidenten, Mitglieder von Bundes- und Länderregierungen, in der BRD akkreditierte Botschafter, ausländische Staatsoberhäupter, Mitglieder ausländischer Regierungen. Sonstige Persönlichkeiten bedürfen von Fall zu Fall der Abstimmung zwischen Oberbürgermeister und Stadtdirektor.

Bemühen müssen sich die signaturwürdigen Herrschaften in der Regel in den Friedenssaal des Rathauses. Zweimal kamen die fast 20 Kilo schweren Wälzer auch zum Gast. Vor den Augen einiger tausend Menschen schrieb sich der Papst auf dem Domplatz ein. Für damalige Verhältnisse ziemlich weit wurde das Buch einem anderen Gast sogar hinterhergeschickt. Lohn der Mühe: die erste Signatur eines echten Politpromis. Johannes von Miquel, preußischer Staatsminister, ehemaliger Oberbürgermeister und Ehrenbürger von Osnabrück, am 11. Mai 1901 in Berlin trocknete die Tinte, mit der er seinen Namen geschrieben hatte.

Nicht nur diesen Transport, auch die Jahre hat das Goldene Buch gut überstanden, wenngleich der Zahn der Zeit und des regen Gebrauchs an der Heftung deutliche Nagespuren hinterlassen hat. Mit fast einem halben Meter Höhe stellen die mit rotbraunem Leder bezogenen Holzdeckel jedes Telefonbuch einer Großstadt locker in den Schatten. Jugendstilornamente zieren die üppigen Silberbeschläge. Das Goldene am Goldenen Buch, der Schnitt, betont auch die handwerkliche Kostbarkeit. Dem alten steht das neue auch in dieser Hinsicht nicht nach. Gearbeitet und gestiftet von Goldschmied Wolfgang Gründorf und Buchbinder Günter Thomas übertrifft es das alte in seinen Ausmaßen. Die Zierbeschläge sind dagegen schlichter, moderner gehalten.

Als Protokollchefin hält Elsbeth Witte weit mehr als die Goldenen Bücher unter ihren Amtsfittichen. Die Eintragungen im Golden Buch sind nur Szenen der Gastspiele, bei denen sie Regie geführt hat, was wörtlich zu verstehen ist, werden vor Empfängen größerer Gesellschaften regelrecht Regiebücher geschrieben.

Diplomatisches Geschick, sagt sie, erfordere die Aufgabe, die sie vor sieben Jahren übernahm, in die sich die frühere Verwaltungsangestellte im Straßenverkehrsamt aber erst einarbeiten musste. Allein beim Festlegen der Sitzordnung, wenn Delegationen zum Festessen geladen werden, seien Etiketten zu wahren, Eitelkeiten zu berücksichtigen. Elsbeth Witte beherrscht ihr Fach, hält sich im Hintergrund. Und reichlich Regenschirme griffbereit, auch wenn seit Tagen die Sonne scheint. Spätestens beim Königstreffen hat sie ihr protokollarisches Meisterwerk abgeliefert.

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Lieben ist menschlich

von Heiko Derweck (alias Walter Budziak)
mit Zeichnungen von Burkhard Lüdtke
Verlag Walter Budziak, Wetter (Ruhr), 1988

  Von Eheberatungsstellen bin ich enttäuscht. Wie ich meine Ehe retten kann, ohne mit meiner Ehefrau zusammenbleiben zu müssen, konnte mir auch dort keiner sagen.
  Die Ehe ist kein Gefängnis. Sonst hätten Verheiratete bei guter Führung ja Aussicht auf vorzeitige Entlassung.
  Lieben ist menschlich. Die dann heiraten, wollen ihren Irrtum nicht eingestehen.
  Eine Liebe, die nicht ohne Ehe auskommen könnte, ich kenne kein Beispiel. Ehen, die ohne Liebe auskommen müssen, kenne ich viele.
  Wenn jeder sich ließe, wie er gerne wollte? Lieben wir doch mal ehrlich.
  Schlager können die Liebe nicht angemessen beschreiben. Aus wirtschaftlichen Gründen. So kurze Songs würde niemand kaufen.
  Wüsste man nicht, dieses Paar hat den Trauschein, wer würde dem Schein noch trauen?
  Hast du endlich begriffen, warum sie dich liebt, hasst sie dich.
  Abschied von so manchem Freund: Er streblos geistreich und gesellig, sie wichtig plappernd und vermögend. Der Zweck heiratet die Mittel.
  Liebe macht blind. So sind an einer offenen Zweierbeziehung immer mindestens drei beteiligt.
  Ich liebe dich, gelobte er. Komm jetzt, hauchte sie, anschließend kannst du meinetwegen lieben, wen und so lange du willst.
  Ich liebe die Liebe. Leider bin ich erzogen. Daher ist mir nicht egal mit wem.
  Lächeln einer Airhostess

Brahms lieben manche, andere nur Mozart. Der Architekt liebt die Form, der Maler die Farbe. Anglisten lieben Shakespeare, Hausfrauen die freie Zeiteinteilung. Das Risiko lieben Rennfahrer. Die Witwe liebt ihren Dackel, der Diktator sein Volk. Segler lieben den Wind, Matrosen das Meer. Der Wanderer liebt die Berge, der Tierschützer die Natur. Der Rentner liebt seinen Garten. Veranstalter lieben ihr Publikum, Künstler ihre Freiheit. Die Filmdiva liebt das Leben, die Sekretärin ihren Beruf. Der Soldat liebt seine Braut, die Nonne ihren Heiland. Ihr Längsgestreiftes mit dem roten Gürtel liebt die Freundin am meisten. Der Heimleiter liebt Ordnung. Politiker lieben die Wahrheit, Richter die Gerechtigkeit. Vertriebene lieben ihre Heimat. Gott liebt alle Menschen. Der Personalleiter liebt Pünktlichkeit. Das Chaos lieben Protestierer. Kritiker machen sich unbeliebt. Du sollst deine Feinde lieben. Den Hungernden in der Dritten Welt opferte er all seine Liebe. Nirgendwo liebt man den Frohsinn mehr als im Rheinland. Kinder gehen lieblos mit ihren Klamotten um. Lehrer belieben zu verreisen. Wenn er nichts getrunken hat, ist er ein friedliebender Ehemann. Welchen Schauspieler lieben Sie am meisten? Aus Liebe zum Vaterland. Die Heiratswillige in der Anzeige liebt Sport, Treue und Ehrlichkeit.

Manchmal liebe ich den, für den ich mich halte. Wenn die Airhostess nur mich anlächelt, oder mir gelingt ein treffender Satz.

  Verliebt, verlobt, verheiratet

Der Fremde findet nicht in sein Hotel. Er hat sich in den Gassen der Altstadt verlaufen. Die letzte Mathematikarbeit geriet schlechter als die vorigen. Sabine hat sich einige Male verrechnet. Der Wein schmeckte nicht. An diesem Sonderangebot hatte Richard sich verkauft. Frankfurt liegt nicht am Rhein. Der Nachrichtensprecher hat sich versprochen. Die Woche an der Nordsee hat den Schülern nicht gefallen. Fast jeder Tag war verregnet. Die Nachwuchsschriftsteller gingen leer aus. Die Preise wurden wieder nur an Prominente vergeben. Meinen Lieblingsroman von Walser bekam ich nie zurück. Ich hatte das Buch an jemanden verliehen. Manche sitzen verurteilt im Gefängnis. Sie wartete und wartete, bis sie erkannte, sie hatte sich mit ihm verabredet. Ob der Papst nicht heimlich genau weiß, dass die Gläubigen ihn und seinen Gott verehren? Hilfe suchst du? Meide den, der dir zu etwas verhelfen will. Damit wäre dir am wenigsten geholfen. Nicht der erste Hoffnungsträger, der dann dumpf in besseren Kreisen verkehrt. Mit ihm zusammen wird sie immer glücklich sein. Diesmal, das spürte sie, hatte sie sich nicht verliebt. Jeder kann sich mal in etwas verrennen. Aber dass viele sich immer noch absichtlich verloben, gleich paarweise und oft sogar feierlich. Auch in der dritten Ehe wurde ihr bald klar, sie war wieder verheiratet. Vieles ließ sich nicht mehr nachholen. Schließlich hatte sie ihre blühensten Jahre wieder mit einem Falschen verlebt.

  Das Pech mit Karin

Ich mag die Karin, genieße ihre Nähe. Sehe ich sie dreimal im Jahr, kann ich von Glück reden. Seit ich sie kenne, lade ich sie ein, wenn ich meinen Geburtstag feiere. Sie kommt jedes Mal.

Wir spaßen, lachen, stubsen einander die Nasenspitzen. Irmgard schmollt im Hinterhalt, zieht dann immer engere Kreise, süchtig vor Eifer, herrenlose Teller, Flaschen, Aschenbecher hin und her zu räumen. Die Begegnungen mit Karin bedeuten mir jedoch viel. Ich lasse mir diese Geschenke nicht nehmen, verschmerze die Eheschelte, die mich anderntags ereilt.

In diesem Jahr gelang mir nicht einmal, ihr die Hand zu geben. Ich muss wohl im Garten gestanden oder mit Birgit, einer ehemaligen Studiengefährtin, und Ernst gesprochen haben, als Karin klingelte. Später erblickte ich sie in einem Winkel neben der Eingangstür, entdeckt, gestellt, festgesetzt. Werner, Klaus, Manfred, drei meiner besten Freunde. Jeder war momentan ohne feste Schnalle. Das hatte ich nicht bedacht, als ich die Gästeliste schrieb.

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