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AUS ALLER WELT
Reihe "Witten woanders": Víteň in Tschechien
Rundgang mit Hausbesuch

Von Walter Budziak

Nach den Schrecken der Nazibesatzung und 70 Jahre nach Kriegsende wird auch in Víteň kein Deutsch mehr gesprochen. Auch Wanderer oder urlaubende Radfahrer verirren sich nicht in das malerisch gelegene Dorf im Verwaltungsbezirk Strážov. Dabei reichen Ausläufer des Naturparks Böhmerwald bis an die Gemeindegrenze. Víteň, der Eindruck liegt in der Luft, will in Bildern von sich berichten lassen. Dann führt eine Begegnung doch noch zu einem Besuch bei greisen Wirtsleuten, die die deutsche Vergangenheit noch erlebt haben. Außer ihren Erinnerungen kommen auch historische Karten und Dokumente wieder zum Vorschein.


Víteň und Strážov (mit Kirche) im Morgennebel - Foto: wab
Aus der Kreisstadt Klatovy (ehemals Klattau) kommend, wo sie wohnt, eilt Ivana Struhová (56) wie üblich zu ihrer Arbeitsstelle, eine landwirtschaftliche Genossenschaft in Víteň. Der Besucher, der aus dem weißen Auto mit deutschem Nummernschild steigt, muss ihr einen Eindruck der Ratlosigkeit vermittelt haben. Jedenfalls fragt sie ihn, ob sie ihm helfen könne, und greift sofort zu ihrem Handy. Aus ihrer Miene sind die Stichwörter Journalist, Deutschland, Suche, Menschen, die in Víteň lebten, als Víteň noch Witten hieß, deutlich abzulesen. Erkennbar weicht Skepsis einer schüchternen Zuversicht. Ivana steckt ihr Handy ein und fordert auf, ihr zu folgen. "Kommen Sie mit, bitte."

Zehn Jahre keinen Besuch mehr erwartet

Das Zusammentreffen mit Stanislav Toman vor dem ehemaligen Gasthof in der Ortsmitte verläuft einseitig. Murmelnd mustert er die beiden Besucher, nickt Ivana ein Lass-mich-mal-machen zu und läuft, sein Handy am Ohr, emsig um das verfallene Haus, dessen Dach einige Handwerker gerade notdürftig ausbessern. Stanislav rüttelt an Türen, klopft an Fenster, späht durch Gardinen, die auch vor einem Kohlestollen hängen könnten.

Die Greisin, die in der Tür erscheint, hat, das sagt ihr Blick, seit zehn Jahren keinen Besuch mehr erwartet, geschweige denn empfangen, gibt aber den Weg in ihre Wohnung frei. In der Küche steht ein Bett, im Schlafzimmer stehen zwei Fernsehsessel an einem Esstisch. Ein fast ebenso großer Fernseher sprudelt eine Gameshow in den stickigen Raum. In einem der Sessel kauert der Rest eines Mannes, den ein langes und hartes Arbeitsleben übrig gelassen hat.

So überraschend wie er von irgendwo her gekommen ist, so überraschend ist Stanislav auch wieder entschwunden. Ivana und ihre freundlichen Nachfragen retten, was die greisen Wirtsleute und Eltern von Stanislav überhaupt noch mühevoll artikulieren können:

Still und beharrlich hervorgekramt

47 Jahre haben Jarmilka (86) und Stanislav Toman sen. (90) den Dorfgasthof bis 1994 bewirtschaftet. An die Jahre unter deutscher Flagge können sie sich erinnern, altersverklärt. Jarmilka war 14, Stanislav sen. war 18 Jahre alt, als der Krieg beendet wurde. Mit Deutsch sind sie aufgewachsen, verstehen oder gar sprechen können sie es nicht mehr. Die körperliche Müdigkeit hat längst auch den Geist gelähmt.

Was ist seit Kriegsende im tschechischen Víteň im Vergleich zum deutschen Witten passiert? Eine Dorfgemeinschaft existiere nicht mehr, übersetzt Ivana. Alte Häuser wurden abgerissen, neue seien gebaut worden, die oft nur noch als Ferienhäuser genutzt würden.

Zur Familie Toman gehören neben Stanislav jun. noch ein weiterer Sohn sowie eine Tochter, die Polizistin ist und in Prag lebt. Die alten Karten, Fotografien und Dokumente, die Jarmilka zwischendurch still und beharrlich aus Schubladen und Schränken hervorgekramt und auf dem Bett in der Küche ausgebreitet hat, sollen stellvertretend offenbar erzählen, was Jarmilka und Stanislav sen. nicht mehr berichten können. Weil sie Ivanas Fragen nicht richtig verstehen, weil sie die richtigen Worte nicht finden, weil ihnen die Kräfte ausgehen.

Chronik von 1924

Ein Grundbuchauszug des alten Gasthauses von 1837 ist das älteste Dokument, das Jarmilka herausgesucht hat. Der erste Eintrag einer aufwendig gebundenen Chronik des Hauses und der Ortschaft datiert von 1924, mit altdeutscher Schrift in Tschechisch verfasst. Lebensmittelpreise, Erntemengen und politische Vorgänge sind dort ebenso verzeichnet wie die jährlichen Schneehöhen. Nach einem alten Foto, das Jarmilka auch wiedergefunden hat, sieht der ehemalige Gasthof heute noch genau so aus wie früher.

Neben allem Wissenswerten, das die hervorgekramten Zeitzeugnisse enthalten, sprechen sie auch für eine anrührende Gastlichkeit der alten Dame, mahnen aber gleichzeitig zum Abschied. Einen dermaßen anstrengenden Besuch haben die altersgeschwächten Tomans lange nicht ertragen müssen. Jarmilka und Stanislav sen. wirken sichtlich erschöpft. Und Ivana, die Agraringenieurin, müsste sowieso längst bei ihren Kartoffeln und Kühen sein, die in der flächenmäßig größten Ortschaft der Gemeinde Strážov neben Getreide überwiegend angebaut beziehungsweise gehalten werden.

Reliquie eines namentlich nicht genannten Papstes

Außer Metallverarbeitung, Maschinen- und Klimaanlagenbau mit 100 Beschäftigten gehöre, von der Landwirtschaft abgesehen, das traditionelle Klöppeln ebenfalls wieder zum Handwerk in Strážov, bewirbt Bürgermeister Josef Rousek (39) die ganze Wirtschaftskraft seiner Gemeinde. Das kurze Gespräch mit ihm kommt zufällig zustande. Statt in seinem Rathausbüro zu sitzen, steht er im Sekretariat und öffnet selbst die Tür, als angeklopft wird, um nach einem Archiv mit Dokumenten aus Víteň zu fragen.

Seit sieben Jahren ist der studierte Ingenieur im Amt und verantwortlich für 12 500 Einwohner. Etwa 80 davon lebten in Víteň, eine von 15 Satellitendörfern in der Gemeinde. Inwieweit die Reliquie eines namentlich nicht genannten Papstes in der Kirche St. Jeri in Strážov zum weiteren Wohl der Gemeinde beiträgt, lässt der Rathauschef schmunzelnd offen. Er muss dringend eine Ratssitzung vorbereiten.