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1938 - 2018: 80 Jahre Reichspogromnacht
Mischung brodelnder Gemüter

Von Walter Budziak, 10.9.2018

Als „eines der am besten dokumentierten Ereignisse der nationalsozialistischen Zeit" bezeichnet die Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württembergs (lpb) die Greueltaten, die Nationalsozialisten ihren jüdischen Mitbürgern auch in Witten in der Nacht vom 9. auf den 10 November 1938 zufügten. SA-Führer in München gaben die Befehle, ausgeführt wurden sie von deren lokalen Verbänden und Ortsgruppen der NSDAP. Die Synagoge an der damaligen Ecke Kurze Straße/Breite Straße [?]heute Ecke Synagogenstraße/Breite Straße wurde gegen 1 Uhr in der Nacht vom Marktplatz aus brennen gesehen.


Ecke Kurze/Breite Straße, Oberschule, Synagoge 1911: ... vom Marktplatz aus brennen gesehen. - Foto: Ernst Roepke, Repro: J. Fruck, Quelle: Stadtarchiv Witten
Die Menschen, allen voran die nationalsozialistisch Radikalisierten, erlebten diese Nacht vor 80 Jahren in aufgewühlter Stimmung. Überall im Land veranstalteten Ortsgruppenleiter Gedenken an den Hitlerputsch 1923 [?]Hintergrund Im Krisenjahr 1923 der Weimarer Republik (Hyper-Inflation; Ruhrbesetzung und "Ruhrkampf" von Januar bis September, kommunistische Unruhen in Sachsen und Thüringen) wollte der Führer der NSDAP, Adolf Hitler (1889-1945), in München am 8./9. November durch einen bewaffneten Putsch die Regierung in Berlin absetzen und selbst die Macht in einer nationalen Diktatur erringen. Zu diesem Zweck hatte er sich mit rechtsradikalen Kräften verbündet und versuchte, rechtskonservative Kreise in der bayerischen Regierung und Verwaltung für sich zu gewinnen. Da sich diese alsbald distanzierten und die Reichswehr nicht mitspielte, scheiterte das Vorhaben.

Den "Marsch zur Feldherrnhalle" stoppte die Bayerische Landespolizei mit Gewalt (20 Tote). Nach seinem Prozess kam Hitler bereits am 20. Dezember 1924 wieder frei, der Putschversuch hatte für ihn und für Bayern auf lange Sicht aber bedeutende Folgen.

(Walter Ziegler, Historisches Lexikon Bayerns)
in München, der zwar gescheitert war, dem aber dennoch große Symbolkraft anhaftete. Hitzige Reden wurden geschwungen, in Bommern im Saal Becker, in Heven im Kuhlhoffschen Saal, für Witten-Ost im Saal Röthemeier an der Ardeystraße. Auch in Rüdinghausen und Stockum traf sich das NS-Gefolge.

Flammende Reden und feierliche Zeremonien

Die Annener versammelten sich auf dem Annener Markt, um von dort zum Hüllberg zu marschieren, wo der Grundstein eines Ehrenmals zum Gedenken an die Gefallenen des Ersten Weltkriegs und die Toten der Nationalsozialisten gelegt werden sollte. Eine andere Besonderheit begleitete die Feier, die die Ortsgruppe Witten-West in der Aula der Oberschule für Jungen, heute Ruhr-Gymnasium Witten, zum Gedenken an den 15 Jahre zurückliegenden Putsch inszenierte. Auf dem Marktplatz kamen in dieser Nacht 116 junge SS-Anwärter, die meisten aus Bochum und Witten, zu ihrer Vereidigung zusammen. Flammende Reden und feierliche Zeremonien bestärkten vermutlich eine sich später entladende Mischung brodelnder Gemüter [?]Hintergrund Zwei Tage zuvor, am 7. November 1938, hatte der 17-jährige Herschel Grynszpan, Sohn einer Ende Oktober 1938 bei der ersten Massenabschiebung aus Deutschland nach Polen („Polenaktion“) ausgewiesenen jüdischen Familie, in Paris ein Attentat auf den deutschen Diplomaten Ernst vom Rath verübt, NSDAP-Mitglied seit 1932, SA-Mitglied seit 1933. Herschel Grynszpan war als 14-Jähriger 1935 nach Paris emigriert, weil er für sich als Jude in Deutschland keine Perspektive mehr gesehen hatte. Auf einer Postkarte hatte seine Schwester ihm im November 1938 von der Ausweisung der Eltern und Geschwister berichtet.

Am 9. November war vom Rath an seinen Schussverletzungen gestorben und lieferte dem NS-Regime damit einen lange ersehnten Vorwand. Am Abend traf die Meldung im Alten Rathaus in München ein, wo Hitler und Goebbels nach einem Gedenkmarsch zum Hitlerputsch an einem Essen der Parteiführung teilnahmen. Gegen 22 Uhr gab Goebbels den anwesenden Partei- und SA-Führern die Nachricht bekannt und lobte in Kurhessen und Magdeburg bereits um sich greifende judenfeindliche Aktionen. Die Partei werde nicht als Organisator in Erscheinung treten, sagte er, sie würde sie aber dort, wo sie stattfinden, auch nicht behindern.

Noch in der Nacht ließ Goebbels Telegramme an untergeordnete Behörden, Gauleiter und Gestapostellen im Reich aussenden. Diese gaben entsprechende Befehle an die Mannschaften weiter, wie etwa die der SA-Stelle „Nordsee“:

„Sämtliche jüdische Geschäfte sind sofort von SA-Männern in Uniform zu zerstören. (...) Jüdische Synagogen sind sofort in Brand zu stecken, jüdische Symbole sind sicherzustellen. Die Feuerwehr darf nicht eingreifen. (...) Sämtliche Juden sind zu entwaffnen. Bei Widerstand sofort über den Haufen schießen. An den zerstörten jüdischen Geschäften, Synagogen usw. sind Schilder anzubringen, mit etwa folgendem Text: ‚Rache für Mord an vom Rath. Tod dem internationalen Judentum. Keine Verständigung mit Völkern, die judenhörig sind.‘ “ (aus: Wikipedia)
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Vereidigung nach Mitternacht

Vorbild der Vereidigung auf dem Marktplatz war nach Mitternacht eine Vereidigung in München, die simultan stattfand und über Lautsprecher nach Witten übertragen wurde. Neben den Spitzen von SS und NSDAP in Person von Sturmbannführer Vasel und Kreisleiter Schlieper nahmen auch Ehrenformationen der Polizei, der HJ und anderer Verbände der NSDAP teil. Viele Neugierige waren gekommen, um das Spektakel mitzuerleben, in dessen Verlauf „die Worte der Eidesformel und die ersten Sätze, die der Führer selbst von München her zu seinen SS-Männern sprach“ über den Marktplatz schallten. Mit dem Treuelied der SS [?]Hintergrund Deutsches Volks- und Studentenlied von Novalis (1802) und Max von Schenkendorf (1814). Die Schutzstaffel (SS) der Nationalsozialisten verwendete das Lied als „Treuelied“. Im SS-Liederbuch erschien es nach dem Deutschlandlied und dem Horst-Wessel-Lied an dritter Stelle.

Die Fassung im SS-Liederbuch entspricht weitgehend dem Text Schenkendorfs, wobei die dritte Strophe entfiel. Laut dem Historiker Karsten Wilke wurde Treue innerhalb der SS als „wichtigste Tugend überhöht“, was sich auch im Wahlspruch "Meine Ehre heißt Treue" reproduziere.

Schenkendorf (1814)
Strophen 1,2, und 4

Wenn alle untreu werden,
So bleiben wir doch treu;
Daß immer noch auf Erden
Für euch ein Fähnlein sei.
Gefährten unsrer Jugend,
ihr Bilder bess’rer Zeit,
Die uns zu Männertugend
und Liebestod geweiht.

Wollt nimmer von uns weichen,
uns immer nahe sein,
treu wie die deutschen Eichen,
wie Mond und Sonnenschein.
Einst wird es wieder helle,
in aller Brüder Sinn,
sie kehren zu der Quelle
in Lieb und Freude hin.

Ihr Sterne seid uns Zeugen,
die ruhig nieder schau’n,
wenn alle Brüder schweigen
und falschen Götzen trau’n.
Wir woll’n das Wort nicht brechen
und Buben werden gleich,
woll’n predigen und sprechen
vom heil’gen Deutschen Reich.

(aus: Wikipedia)
endete die Veranstaltung gegen 1 Uhr.

Eine einzige Kette heimtückischer Versuche

Mindestens ebenso pompös und ähnlich lange dürfte die Gedenkfeier der Ortsgruppe Witten-West in der Aula der Oberschule direkt gegenüber der Synagoge vonstatten gegangen sein. Auf dem Podium in dem geschmückten Saal brannte in einem offen Becken ein Feuer. Fahnenträger marschierten ein, Studienrat Sauerland spielte das Ave verum corpus von Mozart [?]Hintergrund Mozart komponierte sein Ave verum ein knappes halbes Jahr vor seinem Tod, während er zugleich an der Zauberflöte und dem Requiem arbeitete. Die Handschrift datiert vom 17. Juni 1791 und beginnt mit der Anweisung: sotto voce (mit gedämpfter Stimme). Das Werk entstand wahrscheinlich zum Fronleichnams-Gottesdienst für Anton Stoll, Schullehrer und Chorregent der Pfarrkirche St. Stephan in Baden bei Wien, mit dem Mozart befreundet war.

Übersetzung von Peter Gerloff:

Gruß dir, Leib des Herrn, geboren
aus Marias reinem Schoß!
Heimzuführen, was verloren,
trugst du Kreuz und Todeslos.
Von der speerdurchbohrten Seite
flossen Blut und Wasser rot.
Sei uns Vorgeschmack im Streite,
Himmelskraft in Sterbensnot!

(aus: Wikipedia)
auf der Orgel. SA-Standartenführer Honsberg von der in Witten beheimateten SA-Standarte 369 hielt eine Rede, musikalisches Zwischenspiel, Gedichtvortrag, dann ergriff Ortsgruppenleiter der NSDAP Witten-West, Winkler, das Wort. Der Mord an „Gesandtschaftsrat vom Rath“, donnerte er, „der als Opfer feiger jüdischer Mordgier sein Leben für Deutschland lassen musste,“ sei „eine einzige Kette heimtückischer Versuche, der NSDAP die Möglichkeit zur Entwicklung zu nehmen“. Nach Sieg-Heil, dem Deutschlandlied [?]Hintergrund Das Lied der Deutschen wurde von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben am 26. August 1841 auf Helgoland gedichtet. Konkreter Anlass waren französische Gebietsansprüche auf das Rheinland in der Rheinkrise. Diese Ansprüche wies er mit dem Lied zurück und ergänzte dies mit weiteren Gedanken, vor allem mit dem der deutschen Einigkeit, die allein die Voraussetzung für Abwehr feindlicher Angriffe jeder Größenordnung bieten könne.

Das Lied der Deutschen

Deutschland, Deutschland über alles,
über alles in der Welt,
Wenn es stets zu Schutz und Trutze
Brüderlich zusammenhält,
Von der Maas bis an die Memel,
Von der Etsch bis an den Belt –
Deutschland, Deutschland über alles,
über alles in der Welt!

Deutsche Frauen, deutsche Treue,
Deutscher Wein und deutscher Sang
Sollen in der Welt behalten
Ihren alten schönen Klang,
Uns zu edler Tat begeistern
Unser ganzes Leben lang –
Deutsche Frauen, deutsche Treue,
Deutscher Wein und deutscher Sang!

Einigkeit und Recht und Freiheit
Für das deutsche Vaterland!
Danach lasst uns alle streben
Brüderlich mit Herz und Hand!
Einigkeit und Recht und Freiheit
Sind des Glückes Unterpfand –
Blüh’ im Glanze dieses Glückes,
Blühe, deutsches Vaterland!

(aus: Wikipedia)
und dem Horst-Wessel-Lied [?]Hintergrund Kampflied der SA und etwas später auch Parteihymne der NSDAP. Es trägt den Namen des SA-Mannes Horst Wessel, der den Text zu einem nicht genau geklärten Zeitpunkt zwischen 1927 und 1929 auf eine vermutlich aus dem 19. Jahrhundert stammende Melodie verfasste. Der Text glorifiziert die SA, die paramilitärische Unterorganisation der NSDAP. Die SA und der von ihr ausgeübte Terror spielten eine bedeutende Rolle bei der Errichtung der nationalsozialistischen Diktatur. Im Liedtext wird sie jedoch ausschließlich als Massenbewegung im Kampf für Freiheit und soziale Gerechtigkeit dargestellt.

Horst-Wessel-Lied

Die Fahne hoch!
Die Reihen fest (dicht/sind) geschlossen!
SA marschiert
Mit ruhig (mutig) festem Schritt
Kam’raden, die Rotfront und Reaktion erschossen,
Marschier’n im Geist
In unser’n Reihen mit

Die Straße frei
Den braunen Bataillonen
Die Straße frei
Dem Sturmabteilungsmann!
Es schau’n aufs Hakenkreuz voll Hoffnung schon Millionen
Der Tag für (der) Freiheit
Und für Brot bricht an

Zum letzten Mal
Wird Sturmalarm (/-appell) geblasen!
Zum Kampfe steh’n
Wir alle schon bereit!
Schon (Bald) flattern Hitlerfahnen über allen Straßen (über Barrikaden)
Die Knechtschaft dauert
Nur noch kurze Zeit!

Zum Schluss wurde die erste Strophe wiederholt.
(aus: Wikipedia)
endete die Versammlung.

Brandanschlag auf die Synagoge in der Oberschule beschlossen

Wann genau die Weisungen aus München, ausgegeben ab etwa 22.30 Uhr, Witten erreichten, bleibt unklar. Auch Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Wittener SA-Führung sind nur mündlich überliefert. Offenbar waren sich die NS-Strategen nicht einig, wie die Anordnungen auszulegen seien. Einer der Sturmführer habe sich schließlich der Aktion entzogen. Diese Divergenzen konnten nur dort ausgetragen werden, wo sich die SA-Führung an diesem Abend aufhielt: in der Oberschule gegenüber der Synagoge.

Somit dürfte der Brandanschlag auf die Synagoge auch in der Oberschule beschlossen und angeordnet worden sein, als die Vereidigungsfeier auf dem Marktplatz noch andauerte, etwa gegen 1 Uhr am 10. November 1938. Ein SS-Mann hatte später zu Protokoll gegeben, er habe noch während der Vereidigung die Synagoge brennen sehen. Die anschließenden Zerstörungen und Plünderungen jüdischer Geschäfte und Wohnungen konnten aber vermutlich erst nach der Vereidigungsfeier wüten, nachdem die Zuschauer den Marktplatz verlassen hatten.

Aus dem Bett gezerrt und im Schlafanzug durch die Stadt getrieben

Heimgesucht wurden in der Innenstadt besonders die Ruhrstraße und die Bahnhofstraße, wo die Bewohner aus dem Schlaf schreckten, um zu sehen, wie etwa im ersten Obergeschoss des Hauses Ruhrstraße 40 die Möbel des dort wohnenden jüdischen Kaufmanns Sommer unter Gejohle aus dem Fenster geworfen wurden. Weiter aufwärts Richtung Rathaus stürmten die Horden ein kleines Milchgeschäft, das einem jüdischen Händler gehörte, und warfen die Eier palettenweise an die Wand. Auf der Bahnhostraße demolierten SA-Trupps weitere Geschäfte jüdischer Inhaber, so „Brahms“ Herrenbekleidung, warfen die Anzüge auf die Straße oder nahmen sie mit. Die Familie Moritz Hanf wurde in ihrer Villa am Parkweg 14 eingeschlossen, Sohn Ernst Hanf wurde aus dem Bett gezerrt und im Schlafanzug durch die Stadt zur Synagoge getrieben. Dass er in die brennende Synagoge gestoßen wurde, konnten Feuerwehrleute verhindern.

Opfer sollten eigenes Grab ausheben

Später an diesem Morgen machten dann auch SS-Leute, auf großzügig gefasste Anordnung hin oder aus eigenem Antrieb, regelrecht Jagd auf ihre jüdischen Mitbürger. Auch in Annen drangen sie in Wohnungen ein, zerschlugen das Mobiliar und trieben die Bewohner auf die Straße. Im Haus Bebelstraße 9 – 11 traf es die jüdischen Familien Sigmund und Josef Rosenthal, Vettern, bis 1937 Besitzer eines größeren Lebensmittel- und Textilgeschäfts. Auch sie wurden aus dem Bett gezerrt und mussten zusehen, wie ihre Wohnungen verwüstet wurden. Beide Männer mussten sich notdürftig ankleiden, dann trieben SS-Leute sie und ihre Ehefrauen auf das Salinger Feld, verprügelten sie mit Stöcken und stießen sie in den Groten Bach. Danach sollten sie ihr eigenes Grab ausheben, was Bergarbeiter auf dem Weg zu ihrer Morgenschicht mit Drohgebärden verhindern konnten. Die durch die Schläge schwer Verletzten retteten sich später am Morgen ins Marienhospital. Sigmund und Elisabeth Rosenthal blieben dort bis zu ihrer Flucht im März 1939.

Erste Konfrontation mit der radikalen Seite des Antisemitismus

Wie die Bevölkerung die Ereignisse bewertete, ist im Nachhinein schwierig einzuschätzen. Viele zeigten sich vielleicht erschrocken, gingen aber bald zur Tagesordnung über. Ansatzweise dokumentiert ist die Haltung des damals 17-jährigen Oberschülers H., der einer Wittener Kaufmannsfamilie entstammte und mit einem Juden, Gert Rosenberg, befreundet war. Er erlebte in seinem Elternhaus eine diffuse Einstellung gegenüber Juden. Orthodoxen und Zionisten begegnete man ablehnend, liberale, emanziperte (West-)Juden wurden dagegen weitgehend akzeptiert [?]Hintergrund Die Trennung geht auf zwei Zuwanderungswellen im 19. Jahrhundert zurück. Die erste fand zwischen 1860 und 1880 statt, nachdem Preußen Juden die Wahl ihres Wohnorts freigestellt hatte. Diese Neubürger wurden weitgehend akzeptiert und integriert. Zwischen 1880 und 1910 folgten dann weitere jüdische Zuwanderer. Sie kamen vorwiegend aus Westpreußen und bereiteten, wie der jüdischer Lehrer Jacob Ostwald meinte, "große Schwierigkeiten". Sie galten als Hausierer und Trunkenbolde, arm und ungebildet. Im Ergebnis unterteilten die Wittener schon seit 1880 ihre jüdischen Mitbürger in "Alteingesessene" und "Zugereiste". (aus: Schoppmeyer, Witten, Bd. 1). Das antisemitische Propagandablatt Der Stürmer [☞]
Quelle: Archiv 
wurde nicht gelesen.

Lehrerschaft „verwirrt und sprachlos“

Die Pogromnacht konfrontierte H. erstmals offen mit der radikalen Seite des Antisemitismus. Als H. am Morgen des 10. November zur Schule kam, sah er Mitschüler vor Unterrichtsbeginn in den Trümmern der abgebrannten Synagoge stöbern. Die Lehrerschaft erlebte H. als „verwirrt und sprachlos“, sie sorgte jedenfalls dafür, dass Schüler in den Pausen der Brandstelle fernblieben. Im Unterricht waren die Ereignisse der Nacht kein Thema. Seine persönlichen Gedanken erklärt er sich 1999 im Rückblick mit einem gespaltenen Bewusstsein und „schizophrenen Wertekategorien“, was bedeutete: „Den Menschen X. hätte ich schützen mögen; als Jude X. verdient er kein Mitleid.“

Wittens größtes Kaufhaus "arisiert"

Jüdisches Geschäft „arisiert“, also zu Gunsten „arischer“ Nachfolger entschädigungslos enteignet, solche Nachrichten bestimmten die Tage nach der „Reichskristallnacht“, wie die Pogromnacht bald gefährlich verharmlosend genannt wurde, immer häufiger. Schon am 11. November vermeldete die Wittener NSDAP-Kreisleitung, das jüdische Geschäft von Samuel Leiser, Ruhrstraße 19, befinde sich nunmehr in „arischen“ Händen. Auch Wittens größtes Kaufhaus an der Ecke Bahnhofstraße / Heilenstraße, Alsberg & Blank, wurde umgehend von „arischen“ Besitzern, den Siegener Unternehmern Otto Neumann und Dr. Cropp, unter Neumann & Cropp neu eröffnet, mit einer ganzseitigen Anzeige bekanntgemacht im Wittener Tageblatt am 14. November.

Kundenlisten mit „Namen prominenter Zeitgenossen“

„Geschäfts- und Immobilienarisierungen“ waren allerdings, wie überall in Deutschland, auch in Witten schon vorher erzwungen worden. Belegen lassen sich laut Wikipedia insgesamt 67 Fälle zwischen 1933 und 1943, 14 davon vor 1938. Nachträglich drangsaliert wurden auch alle Kunden, die in jüdischen Geschäften eingekauft hatten. Bei einem „Großkampftag“ der Wittener NSDAP gegen das „internationale Judentum“ am 24. November 1938 wurden „gewisse Zeitgenossen“ bezichtigt, ihr Geld zu Juden getragen zu haben, „anstatt den ehrlichen deutschen Kaufmann zu unterstützen“. In einem „früheren jüdischen Kaufhaus“ waren Kundenlisten mit „Namen prominenter Zeitgenossen“ aufgetaucht. „Hierüber wird das letzte Wort (...) noch nicht gesprochen sein“, so die offene Drohung.

England und Frankreich begehrte Fluchtziele

Schon die verheerende Wirtschaftskrise Ende der 1920er Jahre hatte vielen Juden die wirtschaftliche Lebensgrundlage entzogen. Sie waren in eine andere Stadt gezogen. Nach der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 setzte dann eine regelrechte Fluchtwelle ein (siehe Grafik). Manche suchten sich zunächst innerhalb des Deutschen Reiches eine neue Bleibe, außerhalb der deutschen Grenzen waren neben den Niederlanden auch England und Frankreich begehrte Fluchtziele, zumindest übergangsweise. Besonders die Jüngeren entschieden sich zum Ortswechsel. Der Anteil der über 50-Jährigen lag bei den jüdischen Auswanderern unter 25 Prozent.

Bekannt ist der Wegzug von 314 jüdischen Wittenern, von denen 162 den Krieg überlebten. Von den 171 in Witten gebliebenen Juden wurden 109 deportiert. Insgesamt kamen 170 jüdische Mitbürger in und aus Witten durch den nationalsozialistischen Terror ums Leben.

Anm.: Alle wesentlichen Inhalte des Textes sind Auszüge und Zitate aus: Heinrich Schoppmeyer, Witten – Geschichte von Dorf, Stadt und Vororten, Verein für Orts- und Heimatkunde in der Grafschaft Mark (Witten), Bd. 2, 2012

Alle Beiträge der Reihe:
NS-Zeit auch "Projekt der jungen Generation", Interview mit Prof. Heinrich Schoppmeyer
Zeichen einer neuen Zeit - 100 Jahre Novemberrevolution 1918
Mischung brodelnder Gemüter - 80 Jahre Reichspogromnacht


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